Theaterarbeit mit geflüchteten Kindern: Wie das Deutschlernen unterstützt wird
Ziel der Klassenlehrerin einer Lerngruppe für geflüchtete Kinder der Klassenstufe 5/6 war es, durch Theater den Sprachlernprozess und das Ankommen ihrer Schüler*innen in der neuen Heimat zu unterstützen.
Nach einer sehr freien Fassung der Bremer Stadtmusikanten entwickelten eine Schauspielerin und eine Theaterpädagogin vom Theater am Strom gemeinsam mit den Schüler*innen im Alter von 11 bis 13 Jahren ein Theaterstück. Mithilfe von Zauberknete und vielen kleinen Theaterübungen hatte die Klasse am Ende sogar den Mut, das Stück in einem richtigen Theater vor einem großen Publikum zu präsentieren.
Wöchentlich stattfindender Theaterunterricht für geflüchteten Schüler*innen mit zwei Theaterschaffenden zu einem vorab festgelegten Thema (hier: Märchen). Die Klassenlehrerin begleitet den Prozess und greift Impulse aus dem Theaterunterricht in ihren Fächern auf.
- Kindern und Jugendlichen mit Flucht- oder Migrationserfahrung das Ankommen in der Schule zu erleichtern und sie im Sprachlernprozess zu unterstützen
- geflüchteten Kindern und Jugendlichen eine Stimme zu geben
Schulklasse mit geflüchteten Kindern im Alter von 11–13 Jahren, die in einem besonderen Klassenformat (der sogenannten Internationalen Vorbereitungsklasse – IVK 5/6) auf die Integration in die Regelklassen vorbereitet werden
- die Schüler*innen erweitern ihren Wortschatz durch die Verzahnung von Theaterprojekt und Deutschunterricht
- sie orientieren sich an einer vertrauten Rahmenhandlung
- sie üben erste Sketche und mit wachsendem Wortschatz lernen sie mittels Choreografie, Text und Szenen eine Geschichte auf Deutsch zu erzählen und zu präsentieren
- die Schüler*innen verändern durch das Theaterspiel teilweise ihre Persönlichkeit, befreien sich auf der Bühne
- sie stärken ihre Gruppe durch gemeinsam erlebte Körpererfahrung und das Tragen von Verantwortung füreinander
- sie erfahren Wertschätzung durch eine professionelle Präsentation (Theaterboden, Theaterlicht)
- sie bauen Requisiten und nähen Kostüme, die ihre jeweiligen Stärken unterstreichen und sie sichtbar machen
- sie erfassen die Ernsthaftigkeit des Prozesses
- die Schüler*innen und Theater-Mitarbeiter*innen nutzen flexible Arbeitsform und halten den Stück-Ablauf offen, da die Gruppenstärke in Willkommensklassen schwankt
- die Schüler*innen können eine Rolle spielen
- sie haben Spaß an der körperlichen Verwandlung
- sie können Impulse in Übungen wahrnehmen und geben
- die Schüler*innen können unter Anleitung über das Improvisieren kurze Szenen entwickeln
zweistündiger wöchentlicher Theaterunterricht über ein Schuljahr, plus Zusatztermine in den Endphasen
Zusammenarbeit einer weiterführenden Schule (in diesem Fall Stadtteilschule) mit einer Schauspielerin und einer Theaterpädagogin eines freien Theaters, das in nachbarschaftlicher Nähe der Schule liegt (in diesem Fall: Theater am Strom)
Was hat die Theaterarbeit bewirkt?
Wie ist das Theater an die Arbeit herangegangen?
An der Hamburger Stadtteilschule Stübenhofer Weg gab es zwei sogenannte „Internationale Vorbereitungsklassen“, eine für die Jahrgänge 5/6 und eine für die Jahrgänge 7/8. Die Schüler*innen kamen beispielsweise aus Bulgarien, Rumänien, dem Libanon oder Afghanistan.
Das Theater entschloss sich dazu, in Zweierteams zu arbeiten: Morena Bartel (Schauspiel) und Rebecca von der Heydt (Musik und Kostüme) haben sich gemeinsam mit der Klasse 5/6 und ihrer Klassenlehrerin Semra Aldag mit dem Thema Märchen befasst. Das zweite Team forschte mit der Klasse 7/8 theatral zum Thema Stadt und Länder (siehe hierzu das Projektbeispiel zu Theaterarbeit mit geflüchteten Jugendlichen).
Die Theaterschaffenden vom Theater am Strom hatten keine Vorerfahrung in der Arbeit mit geflüchteten Kindern und Jugendlichen. Deshalb starteten sie mit einem sehr offenen Konzept …
Talente entdecken und alle mitnehmen
Das Team aus Theaterschaffenden und Lehrerin hat sich im Rahmen des Projektes mit der Internationalen Vorbereitungsklasse 5/6 folgende Fragen gestellt und versucht, diese zu beantworten:
- Was sind die Herausforderungen in der Theaterarbeit mit geflüchteten Kindern?
- Wie kommt man mit wenig Sprache ins inhaltliche Arbeiten?
- Was gibt den Kindern Sicherheit, damit sie sich im Theaterunterricht öffnen können?
Was sind die Herausforderungen in der Theaterarbeit mit geflüchteten Kindern?
Ein flexibles künstlerisches System als Reaktion auf den Wandel in der Gruppe
Die Arbeit mit der Lerngruppe erforderte sehr viel Flexibilität, da immer wieder Schüler*innen die Gruppe kurzfristig verließen. Die Gruppe ist im Laufe der Zeit von 17 auf 12 Schüler*innen geschrumpft. Deshalb musste das Stück ständig neuen Begebenheiten anpasst werden.
Das Team hat auf diese besondere Anforderung mit einer Art Baukastensystem reagiert. Angelehnt an das Stück „Die Bremer Stadtmusikanten“ entwickelten sie mit den Kindern Tierfiguren, schufen Atmosphären wie beispielsweise in Form eines menschlichen Waldes mit Geräuschen und verbanden choreografische Elemente mit Sprache.
Die verschiedenen Elemente ließen sich sehr flexibel kombinieren. Durch diese Arbeitsweise konnten sie den Ablauf des Stückes lange offen halten und auf stetige Wechsel in der Besetzung reagieren.
Eine weitere Herausforderung bestand darin, dass einige Schüler*innen während des Projektes in die Pubertät kamen. Eine Zeit lang konnten sie sich auf das Spielerische nicht mehr so einlassen. Diesen Kindern half der Umweg über die Musik und so konnten sie als Musiker*innen wieder in das Projekt integriert werden.
Gelingensfaktoren für die Arbeitsweise aus Sicht der begleitenden Lehrerin
Folgende Faktoren sind in der Arbeitsweise zu beachten:
- Die Schüler*innen werden sehr stark in die Arbeit einbezogen. Sie können ihre eigenen Ideen einbringen und auch Kritik äußern, wenn ihnen etwas nicht gefällt.
- Sie werden als Gegenüber in der künstlerischen Arbeit ernst genommen.
- Sie machen etwas als Gruppe zusammen und haben so ein gemeinsames Erlebnis.
- Sie können sich bewegen.
- Jede*r kann sich auf seine/ihre Art und Weise einbringen. Es erfolgt keine Bewertung.
Die Auszüge aus den Proben geben einen Einblick in den Arbeitsprozess…
Wie kommt man mit wenig Sprache ins inhaltliche Arbeiten?
Die fünf Schwerpunkte in der Theaterarbeit
Während des Projektes hat das Team vieles ausprobiert und auch wieder verworfen. Fünf Aspekte, die das Team in der Arbeit mit den Kindern als besonders gewinnbringend erlebt hat, werden im Folgenden näher erläutert:
- Viel Zeit für Kennenlernen und Vertrauensaufbau
- Orientierung an der Geschichte der Bremer Stadtmusikanten
- Verzahnung von Theater- und Wortschatzarbeit
- Gemeinsame Entwicklung von Kostümen und Requisiten
- Besondere Professionalität bei der Präsentation
Viel Zeit für Kennenlernen und Vertrauensaufbau einplanen
In der ersten Zeit ging es vor allem darum, Vertrauen aufzubauen und die Kinder an Theater heranzuführen. Viele der Kinder zeigten besondere Auffälligkeiten wie körperliche Erstarrung, leises Sprechen, Übermotorik und stark schwankende Konzentrationsfähigkeit. Zudem war die Verständigung mit der Gruppe über Sprache eher schwierig. Das Team hat dann mit einer umfangreichen Grundlagenarbeit begonnen, bei der folgende Aspekte im Fokus standen:
- Aufeinander hören lernen: Schüler*innen werden eine Gruppe
- Jungen und Mädchen kommen miteinander in Kontakt
- Müde Körper werden wach und kommen in Bewegung
- Schüler*innen übernehmen Verantwortung, leiten selbständig an und werden dadurch stärker
- Schüler*innen lernen durch choreografische Elemente, sich Texte und Szenen zu merken
Die Kommunikation funktionierte am besten mit wenig Sprache und viel Vormachen. Besonders gut waren körperliche und rhythmische Übungen sowie Lieder mit einfachen Texten und vertrauensbildende Theaterspiele.
Orientierung an der Geschichte der Bremer Stadtmusikanten
Das Team hat sich sehr früh im Prozess dazu entschieden, den Schüler*innen mit dem Stück „Die Bremer Stadtmusikanten“ eine Rahmenhandlung zu geben: Die Bremer Stadtmusikanten sind Vertriebene, die auf der Suche nach einem neuen Zuhause viele Abenteuer bestehen. Die Geschichte ist leicht zu vermitteln und die Schüler*innen konnten sich mit der gemeinsamen Suche gut identifizieren. Allerdings gefielen ihnen nicht alle Charaktere und so wurde aus dem Esel ein Pferd und aus dem Anführer ein kleiner Junge mit Zauberknete.
Die Arbeit mit der Zauberknete war bereits Teil der Grundlagenarbeit und wurde früh im Prozess eingeführt. Sie hat den Kindern von Anfang an sehr viel Spaß gemacht und sie zu kreativen Ideen angeregt, wie beispielsweise einem unsichtbaren Fahrrad, auf dem der Junge dann im Stück umherfährt. In der letzten Szene formt er den Tieren Mut und sie verjagen die bösen Räuber, die ihr Ankommen verhindern.
Je weiter die Lerngruppe im Prozess vorankam, desto besser wurde die Ausdrucksfähigkeit der Kinder, was dazu führte, dass sie sich bei der Ausgestaltung der vorgegebenen Szenen immer mehr einbringen konnten.
Gemeinsame Entwicklung von Kostümen und Requisiten
Auch wenn die Theaterarbeit sehr prozesshaft angelegt war, wurde eine Präsentation von Beginn an mitgedacht. Der gemeinsame Abschluss vor Publikum sollte den Kindern Selbstsicherheit geben. Die Geschichte des Stückes war deshalb bewusst so ausgewählt, dass sie die Kinder auf der Bühne stark machte.
Um in diese Kraft zu kommen, brauchten die Kinder jedoch zusätzliche Unterstützung. Es entstand die Idee, gemeinsam Kostüme und Requisiten zu bauen, die die Persönlichkeit der Kinder stärkten. So wurden Tierköpfe und große Requisiten entwickelt, an denen sie sich festhalten konnten und die ihnen auf der Bühne zur Seite standen.
Verzahnung von Theater- und Wortschatzarbeit
Nachdem sich das Team dazu entschieden hatte, mit den Kindern in Anlehnung an die Bremer Stadtmusikanten zu arbeiten, begann auch die gezieltere Verzahnung von Theater- und Wortschatzarbeit. Eine große Herausforderung zu diesem Zeitpunkt bestand darin, dass der passive Wortschatz der Kinder sehr viel größer war als der aktive. Deshalb war die Vertiefung von einigen Themen im Sprachunterricht besonders wertvoll. So arbeitete die Klassenlehrerin beispielsweise zum Thema Tiere und unternahm eine Exkursion zu einem Tierbauernhof. Besonders wichtig war auch der Schwerpunkt Gefühle, durch dessen Vertiefung die Ausdrucksfähigkeit der Kinder gesteigert wurde.
Dieser Prozess war für die Schüler*innen jedoch sehr anstrengend und es kam immer wieder zu Frustrationen, sodass das Team aufpassen musste, dass die Lust am Spielen nicht durch die fehlenden Worte verloren ging. Hilfreich war die Arbeit in kleinen Gruppen und das Schaffen schneller Erfolgserlebnisse durch das Spielen einfacher Szenen.
Besondere Professionalität bei der Präsentation
Bei der Präsentation ging es dem Team vor allem darum, für die Kinder ein positives Gemeinschaftserlebnis zu schaffen. Deshalb war es auch so wichtig, dass alle mitmachten. Die Schüler*innen sollten zeigen können, dass sie in etwas wirklich gut sind, und stolz auf sich sein.
Um das zu erreichen, legte das Team besonders viel Wert auf eine möglichst professionelle Bühnensituation. Neben besonderem Theaterlicht und einem Theaterboden entstand ein Programmheft mit den Namen aller Schauspieler*innen. Trotzdem war die erste Aufführung sehr schwierig. Die Kinder waren unsicher, lachten viel und hatten Schwierigkeiten, in ihren Rollen zu bleiben. Aber bereits bei der zweiten Aufführung wurden sie sicherer und als sie dann zur Präsentation ihres Stückes im Rahmen des TUSCH Theatertages auf eine echte Theaterbühne eingeladen wurden, waren sie die Stars des Abends.
Was gibt den Kindern Sicherheit, damit sie sich im Theaterunterricht öffnen?
Eine stärkende Rahmenhandlung finden
Das gleiche Team hat im zweiten Jahr einen ähnlichen Prozess durchlaufen, nur mit einer neuen Lerngruppe. Statt zum Thema Bremer Stadtmusikanten arbeiteten sie mit den Schüler*innen zu Pflanzen und Natur. Zwei wesentliche Fragen haben sie dabei weiter beschäftigt: Was brauchen die Schüler*innen, was gibt ihnen Sicherheit, um sich auf die Theaterarbeit einlassen zu können? Wie kommen wir mit wenig Sprache ins inhaltliche Arbeiten?
Im Vergleich zum ersten Projekt hat das Team probiert, die Kinder relativ früh zum freien Improvisieren anzuregen, um sie an der inhaltlichen Ausgestaltung des Stückes zu beteiligen. Das hat die Lerngruppe jedoch überfordert und so sind die Theaterschaffenden dazu übergegangen, den Rahmen, in den die Schüler*innen ihre Ideen einbringen können, wieder sehr klar zu beschreiben.
Folgende Punkte können helfen, ein ähnliches Projekt durchzuführen:
Ein verlässliches Team arbeitet über einen längeren Zeitraum mit den Kindern
– Wer hat den engsten Kontakt zu den Kindern und kann das Projekt von Schulseite aus begleiten? Welches Theater ist in der Nähe und so flexibel, dass es regelmäßig in Schule arbeiten kann? Wer kann sich seitens des Theaters vorstellen, sich auf die Arbeit einzulassen und hat eventuell erste Erfahrungen mit der Zielgruppe?
Eine Rahmenhandlung finden
– Welche Themen bringt die Gruppe mit? Wo gibt es eventuell Anknüpfungspunkte zum Lehrplan? Welches Stück könnte einen guten Rahmen geben? Welche Handlung lässt sich auch mit wenigen Worten erklären?
Das Kennenlernen und den Gruppenfindungsprozess gestalten
– Wer sind wir und warum wollen wir Theater spielen? Wie gelingt es, einen sicheren Raum zu schaffen? Welche Übungen funktionieren auch ohne Sprache und schaffen schnelle Erfolgserlebnisse für die Gruppe?
Sich künstlerische Strategien überlegen
– Mit welchen künstlerischen Mitteln können Sie die Geschichte erzählen (Video, Foto, Kostüme, Musik, Gedichte in der Heimatsprache, choreografische Elemente, …)? Wie inspirieren wir die Schüler*innen, sich zu zeigen?
Einen angemessenen Rahmen für die Präsentation finden
– Was ist ein guter Ort in der Schule oder im Theater? Wer ist ein wertschätzendes Publikum? Wie lädt man die Eltern, Schulleitung, Kolleg*innen am besten ein?
Das Wichtigste aber ist: Trauen Sie sich, legen Sie los, machen Sie Ihr Ding!
Downloadmaterial
Das Downloadmaterial unterstützt Sie dabei, Ihr eigenes Projekt mit geflüchteten Kindern und Jugendlichen aufzubauen, oder bereits bestehende Projekte zu reflektieren und weiterzuentwickeln.
Der Fragebogen: Was sollte man bedenken, wenn man ein eigenes Projekt entwickelt? In diesem Dokument werden die zentralen Gelingensbedingungen der beiden Projekte zusammengefasst und durch Fragen an die eigene Arbeit ergänzt.
Die Methodensammlung: Da die Schüler*innen zu Beginn des Projektes so gut wie kein Deutsch sprachen, hat sich das Team auf die Suche nach Übungen gemacht, die nach dem Prinzip des Vormachens-Nachmachens und mit einfachen Anweisungen gut funktionieren. Die Übungen in dieser Sammlung sind nicht neu, aber sie haben in der Zusammenarbeit mit den geflüchteten Kindern und Jugendlichen noch einmal eine neue Bedeutung bekommen.
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