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Idee
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Idee

Freie Stückentwicklung – Wie eine Theaterproduktion gemeinsam mit Schüler*innen entsteht

Wie gelingt es, gemeinsam mit Schüler*innen ein eigenes Stück zu entwickeln?
Zwei Lehrerinnen einer Hamburger Schule haben sich gemeinsam mit dem Ernst Deutsch Theater und einer erfahrenen Theaterpädagogin auf den Weg gemacht, das zu lernen.

Ihre zwei Klassen – eine fünfte und eine siebte – arbeiteten zum Spielzeitthema „Freiheit“: Die siebte Klasse befasste sich mit dem Unterthema „Nichteinhaltung von Kinderrechten“, die fünfte entwickelte ein Stück zum Thema „Mut und Angst“.

Die Lehrerinnen wurden in ihrer Arbeit begleitet durch Fortbildungen, Hospitationen und Coachings des Partnertheaters. Aus dem Prozess heraus ist dieses crossmediale Lehrbuch entstanden – mit vielen Tutorials, Aufgaben und praktischen Tipps und dem Ziel, Sie dabei zu unterstützen, eine freie Stückentwicklung selbständig umzusetzen.

Was reizte das Team an der freien Stückentwicklung?

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Durchführung

Schritt für Schritt zum eigenen Stück

Im Rahmen der gemeinsamen Theaterarbeit definierte das Projektteam vier zentrale Fragen, die sich auch als Arbeitsphasen beschreiben lassen – sowie eine Frage, die für alle Phasen von Bedeutung ist:

  1. Recherche: Wie finde und entwickle ich ein spannendes Thema für die Inszenierung?
  2. Grundlagen: Wie gelingt es, mit den Schüler*innen ins Spielen zu kommen?
  3. Sammlung: Wie entwickle ich gutes Szenenmaterial für das Stück?
  4. Zusammensetzen: Wie gelingt es, aus vielen einzelnen Bausteinen ein Stück zu entwickeln?
  5. Und eine zentrale Frage für alle Phasen: Wie vermittle ich meinen Schüler*innen ein erweitertes Verständnis von Theater?

Kurze Erläuterung zu den Arbeitsphasen

Um den Prozess zu verstehen, ist es hilfreich, ihn in vier Phasen zu betrachten. Grundsätzlich sind die Übergänge jedoch fließend.
Die besondere Herausforderung besteht darin, das Projekt strukturiert vorzubereiten, aber gleichzeitig so viel Freiraum wie möglich für die Impulse und Ideen der Klasse zu lassen.

Damit die Schüler*innen sich überhaupt einbringen können, brauchen sie:

  • Vertrauen in die Lehrperson und die Gruppe
  • Ein Thema, zu dem sie etwas zu sagen haben und das sie interessiert
  • Einen klar abgesteckten Rahmen, in dem sie arbeiten und forschen können
  • Sinnliche Impulse wie Musik und inspirierende Textpassagen oder beispielhafte Inszenierungen, die sie sich anschauen können

1. Phase: Wie finde und entwickle ich ein spannendes Thema für die Inszenierung?

Über Themenfindung, Spielimpulse und die Strukturierung der Ideen

Ich arbeite immer ganz frei, weil ich es am wichtigsten finde, dass die Kinder überzeugend spielen. Und dafür muss das Thema aus ihnen heraus kommen.
Severine Henning, Theaterlehrerin

Die Themenfindung ist das Herzstück einer jeden freien Theaterproduktion. Deshalb ist es wichtig, für die Suche und die Ausarbeitung eines Themas und möglicher Unterthematiken ausreichend Zeit einzuplanen.
Erfahrungsgemäß trägt eine gute Vorbereitung den gesamten theatralen Prozess mit den Schüler*innen.

Im Rahmen der Recherchephase sollten folgende Dinge passieren:

  1. Kernthema und Titel finden
  2. Spielimpulse suchen und vorbereiten
  3. Rechercheergebnisse in konkrete Forschungs- und Arbeitsaufträge für die Schüler*innen umwandeln

Tipp: Grundsätzlich lassen sich all diese Schritte auch gemeinsam mit Schüler*innen umsetzen! Planen Sie aber genug Zeit ein, denn erfahrungsgemäß benötigt besonders der Prozess des selbständigen Forschens viel Zeit.

1.1. Kernthema und Titel finden

Es gibt verschiedene Möglichkeiten der Themenfindung (siehe hierzu auch das Downloadmaterial zur Ideen- und Themenfindung in „Kooperationen gestalten und aufbauen“).
In diesem Beispiel hat sich die Fachschaft Theater gemeinsam mit dem Partnertheater dazu entschlossen, zum Spielzeitthema des Theaters zu arbeiten: „Freiheit“.

Die Lehrerinnen überlegten sich in einem Brainstorming, welche Aspekte des Themas sie im Hinblick auf die Schüler*innen interessieren könnten. Dadurch entstanden persönliche Unterthematiken. Die Theaterlehrerin Severine Henning wollte gerne zum Thema „Nichteinhaltung von Kinderrechten und Machtmissbrauch“ arbeiten. Die Lehrerin Birte Kasten wählte für ihre fünfte Klasse die Fragestellung: Wie viel Mut braucht es, eine freie Entscheidung zu treffen?

Tipp: Wichtig ist, dass das Oberthema möglichst offen ist und unterschiedlichste Fragestellungen zulässt.

Einblicke in die Themenfindung und die Entstehung der zwei Projekte

1.2. Spielimpulse finden und vorbereiten

Wenn der Arbeitstitel steht, beginnt die Recherche. Ein guter Einstieg ist ein Brainstorming zum Thema, in dem eine offene Sammlung von passenden Begriffen, Zitaten, persönlichen Erinnerungen, Zeitungsartikeln, Auszügen aus Romanen oder Stücken und Musiken entsteht. Es gibt fünf sogenannte „Spielräume“, die helfen, das selbstgewählte Thema mit Leben zu füllen: Choreografie, Objekt, Raum, Text und Musik. In den extra für dieses crossmediale Lehrbuch entwickelten fünf Tutorials zeigt die Theaterpädagogin Gesche Lundbeck zusammen mit der 7. Klasse aus dem Projekt, welche Möglichkeiten diese Spielräume bieten und wie sie sich gemeinsam mit Schüler*innen gestalten lassen:

1.3. Umwandlung der Rechercheergebnisse in konkrete Arbeitsschritte

Wenn der Arbeitstitel und die ersten Ideen für Objekte, Text, Musik, Choreografie oder die Gestaltung des Raumes stehen, geht es darum, die gestalterischen Ideen mit den Inhalten zusammenzubringen. Das Ziel ist nun, aus der Sammlung von Möglichkeiten und Einzelideen einen Spielrahmen zu entwickeln.

Konkrete Forschungsaufträge helfen bei der Gliederung und Ausgestaltung der einzelnen Unterrichtseinheiten. Die Lehrerin Severine Henning hat ihre Schüler*innen beispielsweise zum Thema „Versteckte Gewalt gegen Kinder“ forschen lassen. Die Schüler*innen befragten sich und andere Kinder zu ihren Erfahrungen. Aus den Ergebnissen entstand eine Textgrundlage für die szenische Arbeit. In der Kombination mit einem passenden Material aus der Objektsammlung (in diesem Fall eine große Tonne voller Papierknäuel) entstand dann ein neues Experimentierfeld mit Text und Objekt, in dem die Schüler*innen zu ihrem Text verschiedene Einsatzmöglichkeiten des Objektes ausprobiert haben.

Tipp: Oft entwickeln die Schüler*innen gerade dann interessante eigene Ergebnisse, wenn diese nicht so explizit abgefragt werden. Deshalb ist auch die gezielte Auswahl der Übungen für die Aufwärmphase wichtig für die szenische Arbeit.

Der Prozess des Forschens braucht viel Zeit

In der Anfangsphase einer freien Stückentwicklung geht es darum, viel zu erforschen und szenisches Material zu sammeln, aber noch wenig zu entscheiden. Die einzelnen themenbezogenen Übungseinheiten dienen dazu, das inhaltliche Arbeitsfeld auf immer wieder neue Weise zu öffnen. Dabei kommt der entscheidende Zugang über das Spiel und nicht über das Besprechen. Als Nebeneffekt lernen die Schüler*innen spielerisch wesentliche Grundlagen der Theaterarbeit kennen und werden mit der Oberthematik des Stückes vertraut gemacht. Das regelmäßige Entwickeln neuer Ideen ist dabei unerlässlich. Auch über das Experimentieren mit Materialien oder Bühnenbildelementen ergeben sich oft neue inhaltliche Impulse.

2. Phase: Wie gelingt es, mit den Schüler*innen ins Spielen zu kommen?

Über die Bedeutung von Grundlagenarbeit und Schüler*innen-Feedback für die Stückentwicklung

Bühnenpräsenz
Laut sprechen
Emotionen zeigen
Beobachten und Feedback geben
Ich versuche, immer in den ersten Unterrichtsterminen etwas zu schaffen, das sehr wirkungsvoll ist und die Schüler*innen inspiriert. Ich gebe also Ideen von mir hinein. Wenn ich merke, dass ich die Gruppe mit im Boot habe, lasse ich immer mehr los. Ich glaube, dass gerade Schüler*innen sehr schnell entscheiden, ob etwas gut ist oder schlecht, und dass oft gleich am Anfang dieses Vertrauen in die Arbeit entsteht. Deshalb gehe ich direkt in die künstlerische Form und kopple die Theatergrundlagen immer ans Inhaltliche.
Gesche Lundbeck, freie Theaterpädagogin

2.1. Die Verbindung von Grundlagenarbeit und szenischem Spiel

Die Grundlagenarbeit wird als gezielter Einstieg ins inhaltliche Arbeiten oft unterschätzt. Damit für die Schüler*innen ein sinnstiftender Zusammenhang zwischen Übungen und Stückentwicklung entsteht, sollten Grundlagenarbeit und Szenenentwicklung möglichst ohne Pause fließend ineinandergreifen. Das gelingt, wenn die gesamte Übungseinheit eine inhaltliche Ausrichtung hat, der alle Arbeitsaufträge und Theaterübungen zuarbeiten.

Wenn beispielsweise das Thema Macht und der Schwerpunkt räumliche Auseinandersetzung für eine Unterrichtseinheit gewählt werden, können die Schüler*innen durch eine gezielte Auswahl der Übungen wie etwa Statusspiele, Raumformen, „Einer gegen alle, alle gegen einen“, Vertrauensübungen, Missbrauch von Vertrauensübungen, … spielerisch in das Forschungsfeld eingeführt werden.

Um den Übergang zwischen Grundlagen- und szenischer Arbeit möglichst fließend zu gestalten, ist es wichtig, alles schon vor Ort zu haben, was für die spielpraktischen Aufgaben benötigt wird (Materialien, Musik, …).

Auch der Raum sollte bereits so konzipiert sein, dass es keinen Umbau zwischen Warm-up und Spielszenen geben muss. Erst danach sind Pausen gut, um über die entstandenen Szenen zu reflektieren.

In der freien Arbeit ist die Gruppe in besonderer Weise formgebend für die Entwicklung des Stückes. Deshalb gucke ich immer wieder – auch losgelöst von der inhaltlichen Arbeit – auf soziale Prozesse und versuche, über die Theaterarbeit darauf zu reagieren. Das heißt, ich passe die Wahl der Übungen und künstlerischen Mittel der Gruppe von Schüler*innen an. Ist die Gruppe wild und laut, nutze ich diese Energie in der Arbeit. Sind die Deutschkenntnisse noch nicht ausreichend, lasse ich beispielsweise auch andere Sprachen einfließen oder fokussiere auf choreografische Elemente. Während der Grundlagenarbeit zeigen sich auch oft besondere Begabungen von einzelnen Schüler*innen, die ich dann gezielt für die Stückentwicklung einsetze.
Gesche Lundbeck, freie Theaterpädagogin

2.2. Mit Schüler*innen Regieentscheidungen treffen

Die freie Stückentwicklung ist ein ewiges Jonglieren zwischen Regie und Eigenregie. Die Regie von außen wird oft dann wichtig, wenn es um das Zusammensetzen der Ergebnisse geht. Aber auch diese Entscheidungen können demokratisch getroffen werden. So lernen die Schüler*innen, wie ein Stück dramaturgisch gebaut wird. Je mehr die Schüler*innen an den künstlerischen Entscheidungsprozessen teilhaben, umso wichtiger ist es, sie frühzeitig an die selbständige Ausgestaltung von Freiräumen heranzuführen und mit ihnen eine gemeinsame Theatersprache über regelmäßiges Feedback einzuüben.

3. Phase: Wie entwickle ich gutes Szenenmaterial für das Stück?

Über Experimentieren und Sammeln im theatralen Prozess

Ich fange oft mit persönlichen Geschichten der Schüler*innen an und erweitere dann den Kosmos in die großen Themen. Obwohl die Arbeit so frei wirkt, habe ich immer eine klare Struktur im Kopf. Je freier die Schüler*innen mit dem Inhalt experimentieren sollen, desto klarer gebe ich den Spielrahmen vor. Damit vermittle ich den Schüler*innen die Sicherheit, die sie brauchen, um sich innerlich öffnen zu können.
Gesche Lundbeck, freie Theaterpädagogin

Schon während der Grundlagenarbeit entstehen erste Szenen, Spiele mit Requisiten, Tanz- oder Textimprovisationen. In einem spielerischen Prozess werden verschiedene Inszenierungsideen ausprobiert, einiges wird verworfen, einiges weiterentwickelt. Wichtig ist, bei allem Experimentieren nie den Inhalt aus dem Blick zu verlieren: Was genau soll erzählt werden und warum?

Viele spannende Ideen entstehen zwischen den Stunden. In gemeinsamen Pausen oder im Anschluss an den Unterricht in Nebengesprächen erzählen die Schüler*innen oft eher, was sie denken und was sie bewegt. Vieles davon kann inspirierend sein für die weitere Arbeit und den kommenden Stundenaufbau.
Manchmal lohnt es sich, ganz individuelle Schreibaufträge an einzelne Schüler*innen zu vergeben, die über eine wichtige Thematik gesprochen haben.

3.1. Regie führen

Aufgabe der Regie ist es, durch Themensetzung, Spielimpulse oder Forschungsaufträge Wege aufzuzeigen und Strukturen zu schaffen, in denen die Schüler*innen frei und kreativ arbeiten und Verantwortung übernehmen können. Aspekte einer guten Regie sind unter anderem:
  • Impulse der Gruppe wahrzunehmen und weiterzudenken,
  • Beobachtungen von außen zurück in die Gruppe zu geben,
  • gezielt Spielimpulse und Arbeitsaufträge als Reaktion auf das Geschehen im Unterricht vorzubereiten,
  • die Schüler*innen herauszufordern und sie zum Beispiel mit Theatermethoden oder Inhalten vertraut zu machen, die sie noch nicht kennen und damit ihr Sprachrepertoire zu erweitern.

3.2. Vertiefung der Textarbeit

Gute Texte als Grundlage für das Stück oder als Inspiration für das eigene Schreiben zu finden, erfordert eine breitgefächerte Suche. Oft eignen sich Auszüge aus:

  • Liedtexten oder Gedichten
  • Stücken oder Romanen
  • Zeitungsartikeln oder Interviews
  • Chatverläufen

Innere Bilder und Subtexte: Für eine gute Umsetzung der Texte, ist es besonders wichtig, mit den Schüler*innen an der Sprache zu arbeiten. Zum einen geht es dabei um die inhaltliche Auseinandersetzung mit Texten und die Frage nach dem, was erzählt wird, und zum anderen um die geeignete Form und Betonung in der Umsetzung.
„Innere Bilder“ unterstützen die Schüler*innen während des Sprechens. Durch die Arbeit mit Subtexten werden sie herausgefordert, unterschiedliche Sprecharten eines Textes auszuprobieren (siehe hierzu auch das Tutorial-Video Text weiter oben).

Unterschiedliche Textlängen: Kleine Dialoge oder Textfragmente eignen sich besonders, um in die Textarbeit einzusteigen. Man kann längere Texte auch auf verschiedene Personen verteilen oder chorisch sprechen. In der Arbeit mit längeren Texten eignet sich als Einstieg auch die „ungefähre freie Interpretation“ des Inhalts. Auch aus Spiel-Improvisationen lassen sich Texte entwickeln und verschriftlichen.

Mut zum Eigenen: Die Methode des Minidramas ist eine gute Vorlage für eigene Textarbeit. Es ist auch interessant, aus Texten von Schüler*innen eine Textvorlage zu erstellen oder aus einzelnen Sätzen der Schüler*innen einen neuen Text zu schreiben.

4. Phase: Wie gelingt es, aus einzelnen Bausteinen ein Stück zu entwickeln?

Über die Bedeutung von Musikalität beim Zusammensetzen der Szenen

Ziel einer theatralen Collage sollte sein, dass sich aus der Komposition der gemeinsam entwickelten Unterthematiken ein größerer Sinnzusammenhang ergibt.
Geht es in der einen Szene beispielsweise um das Thema Unterwerfung und in der darauffolgenden um Wünsche, wird allein durch die Komposition eine Geschichte erzählt.
Diese Phase ist wie ein Nadelöhr, durch das alle gemeinsam durch müssen, bevor sich nach einem oft herausfordernden Prozess am Ende das Stück zeigt.

Um eine gezielte Auswahl der Szenen für das Stück treffen zu können, ist es wichtig, eine Reihenfolge festzulegen. Schritt für Schritt werden dann die Übergänge sowie Anfang und Ende der Inszenierung gestaltet. Dabei ist es wichtig, den roten Faden, dem die Erzählung folgen soll, nicht aus dem Blick zu verlieren.

Folgende Schritte helfen, aus dem szenischen Material ein Stück zu formen:

  1. Erzählung festlegen
  2. Anfang und Ende entwickeln
  3. Dynamik im Stück überprüfen
  4. Verknüpfung der Szenenbilder
  5. Einen Abschluss finden

4.1. Erzählung festlegen

Bei der Entwicklung der Szenenabfolge hilft die Visualisierung in Form eines Zeitstrahls, der in drei oder mehr Abschnitte eingeteilt wird. Die Details der einzelnen Szenenbilder werden unter einem passenden Titel auf Karteikarten geschrieben. Anhand der Karteikarten wird ein erster möglicher Aufbau des Stückes skizziert, indem einzelne Szenen eher an den Anfang, in die Mitte oder an das Ende gelegt werden.

Allgemein ist ein erster gelegter Ablauf meist nicht endgültig. Er dient dazu, das anzuschauen, was bereits erzählt wird. So lassen sich inhaltliche Lücken in der Erzählung erkennen, die Impulse für die weitere Szenenentwicklung geben. Auch die Dynamik des Stückes und die Nutzung der Spielräume lassen sich gut überprüfen: Kommt Musik zum Einsatz? Wird mit Requisiten gespielt? Gibt es choreografische oder filmische Elemente?

4.2. Anfang und Ende festlegen

Ein durchgängiges Prinzip des Postdramatischen Theaters ist die Enthierarchisierung der Theatermittel. […] Im Postdramatischen Theater werden die Elemente nicht in eindeutiger Weise verknüpft. […] Der Zuschauer des postdramatischen Theaters wird nicht zur sofortigen Instant-Verarbeitung veranlasst, sondern zum aufschiebenden Speichern der Sinneseindrücke mit „gleichschwebender Aufmerksamkeit”.

 Bernd Stegemann: Lektionen 1: Dramaturgie. Berlin: Theater der Zeit 2009

Im Postdramatischen Theater kann ein Stück einen freien Erzählstrang haben, in dem einzelne Elemente miteinander verknüpft oder in einen Zusammenhang gestellt werden, ohne sie auszuerzählen. Es gibt keinen Anspruch auf Linearität des Erzählens. Anfang, Höhepunkt und Ende sind also viel freier zu verstehen als in klassischen Erzählformaten. Trotzdem hilft es, sich bei der Stückentwicklung mit Anfang, Höhepunkten und Schluss zu befassen. Der dramaturgische Aufbau einer künstlerischen Arbeit ohne lineare Erzählstruktur ist dann wie eine zu füllende Fläche aus Themen, Bildern und Texten, die erst durch das Zusammenfügen eine inhaltliche Ausrichtung erhält.

4.3. Dynamik im Stück überprüfen

Insbesondere dann, wenn sich die Dreiteilung Anfang, Höhepunkt, Ende nicht ergibt und keine nachvollziehbare Geschichte entsteht, lässt sich über die Dynamik der einzelnen Szenen ein Spannungsbogen bauen. Dabei hilft es, den Erzählstrang wie ein Musikstück anzuschauen: Gibt es laute, leise, sanfte, wilde, traurige, fröhliche Szenen oder sind sie von der Dynamik sehr ähnlich? Ein guter Spannungsbogen entsteht beispielsweise durch abrupte Wechsel zwischen ruhigen oder wilden, lauten oder leisen Szenen, oder die gezielte Kombination von Einzel- und Gruppenszenen.

4.4. Verknüpfung der Szenenbilder

 

Wie immer in der Kunst gibt es bei Entscheidungen kein Richtig und kein Falsch und dementsprechend auch kein Geheimrezept für eine vernünftige Aneinanderreihung der Szenen. Für den Fluss des Stücks ist es wichtig, das Publikum spielerisch von einer Szene in die nächste zu führen.

Dabei sind folgende Dinge zu beachten:

 

Es hilft, sich die End- und Anfangsbilder der Szenen sowie die Ab- und Auftritte der Schüler*innen gezielt anzuschauen und zu überlegen, wie ein guter Übergang aussehen kann. Folgende Fragen können hierbei helfen: Wo stehen die Schüler*innen am Ende der Szene, wo am Anfang der nächsten? Welches Element eignet sich gleichzeitig als Endpunkt für die eine und als Startpunkt für die andere Szene?

Tipp: Oft helfen Gruppenbilder, die Übergänge fließender zu gestalten. Auch Musik hilft bei der Gestaltung von Übergängen, beispielsweise wenn es darum geht, bereits für die nächste Szene eine Stimmung einzuführen.

Durch die Bespielung von vielseitig einsetzbaren Bühnenelementen oder Requisiten – wie beispielsweise Rindenmulch auf dem Boden – entstehen Ideen für spielerische Übergänge. Zu einer dialogischen Szene könnte beispielsweise eine Gruppe von Schüler*innen hinzukommen, die sich mit dem Rindenmulch bewirft. So entstehen Gruppenbilder, die gleichzeitig als Hintergrund für die nächste Spielszene funktionieren.

Hier geht es um Gleichberechtigung auf der Bühne. Die Verknüpfung der Szenen ist eine gute Möglichkeit, zusätzliche Spielparts zu erfinden. So kann der Teil der Gruppe, der am Spielgeschehen nicht beteiligt ist, im Hintergrund in die szenischen Bilder integriert werden.

Es ist immer ein schwieriger Moment, sich von Einzelsequenzen zu trennen, aber wichtig ist, dass ein schlüssiges Gesamtbild entsteht. Manchmal passen einzelne Bilder einfach nicht mehr. Oft entsteht der Fluss in den Übergängen tatsächlich erst durch das Weglassen bestimmter Dinge.

Am allermeisten achte ich darauf, dass alle Schüler*innen etwas tun. Außerdem ist mir wichtig, dass sie spüren, dass es kein Richtig und kein Falsch gibt. Nur weil man auf der Bühne steht, ist das richtig? Weil man hinter der Bühne agiert, ist das falsch? – Eben nicht! Wenn wir die Leute hinter der Bühne nicht gehabt hätten, wären wir mit unserer Arbeit nicht so zufrieden gewesen. Lange nicht.
Severine Henning, Theaterlehrerin

4.5. Einen Abschluss finden

Aufführungen sind ein wesentlicher Teil der Theaterarbeit, denn das Theatererlebnis wird erst in einer Bühnensituation mit Publikum richtig spürbar. Nur dann können die Schüler*innen sich wirklich zeigen und das Stück wird in seiner Gänze sichtbar und erfahrbar. Dieser Schritt in die Öffentlichkeit wird oft als Wagnis empfunden, ist aber immer empfehlenswert.

Aufführungsformate: Auch wenn der Prozess gefühlt mal nicht optimal gelaufen ist, lassen sich aus jeder Forschung erzählerische Strukturen herausarbeiten. Je nach Gruppe können die Stücke ganz unterschiedlich lang sein und ganz unterschiedliche Aufführungsformate füllen. Auch eine Interaktion während einer Schulpause, eine zehnminütige Choreografie oder eine Werkstattpräsentation vor der Parallelklasse ist ein würdiger Projektabschluss, wenn er zum Stand der Arbeit passt. In vielen Schulen existieren Formate, in denen verschiedene Klassen nacheinander kurze Präsentationen zeigen können, sodass eine einzelne Aufführung nicht abendfüllend sein muss.

5. Wie kann man Schüler*innen ein erweitertes Verständnis von Theater vermitteln?

Über ein konservatives Theaterbild und die Chance, dieses durch eine freie Stückentwicklung aufzubrechen

Insbesondere im ersten Projekt dieser Art ist die Prozesshaftigkeit der Arbeitsweise sowohl für Schüler*innen als auch für Lehrer*innen oft schwer auszuhalten. Deshalb ist es umso wichtiger, den künstlerischen Prozess gemeinsam zu gestalten und die jungen Schauspieler*innen in den einzelnen Phasen gut mitzunehmen.
Gesche Lundbeck, freie Theaterpädagogin

5.1. Die Bedeutung der Präsentation für das Verständnis von theatralen Prozessen

Die freie Arbeit geht von den Erfahrungen und Geschichten der Kinder und Jugendlichen aus. Hier haben sie die Möglichkeit, etwas von sich zu erzählen. Die Form der Stückcollage ist aber für die meisten Schüler*innen erstmal fremd. „Wann machen wir richtiges Theater?“, wird häufig gefragt, obwohl sie eigentlich schon mittendrin sind im theatralen Prozess.

In ihrem Verständnis von Theater sind viele Schüler*innen eher konservativ geprägt. Sie wünschen sich klare Rollen und eine spannende Textvorlage, die sie dann auf der Bühne umsetzen. Nicht genau zu wissen, wie die eigene Rolle oder die Handlung des Stückes sein wird, verunsichert viele.

Für das Verständnis von freier Theaterarbeit ist die Präsentation am Ende des Prozesses zentral. Denn erst hier wird deutlich, wie die einzelnen Elemente zusammenspielen und einen Sinn ergeben.

Was haben die Schüler*innen im Prozess gelernt?

5.2. Schüler*innen im Prozess gut mitnehmen

Schüler*innen lernten im Prozess, Freiräume für sich zu nutzen.
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Übertragbarkeit

Los geht's!

Um einen solchen Prozess an der eigenen Schule zu initiieren, ist es wichtig, eine Theaterpädagogin oder einen Theaterpädagogen zu finden, die oder der bereits viel Erfahrung in der freien Stückentwicklung hat – und Lust, diese weiterzugeben.

Je nach Erfahrungsstand der beteiligten Theaterlehrer*innen macht es Sinn, erst einmal bei einer freien Stückentwicklung zu hospitieren oder zu assistieren. Hierfür eignet sich auch sehr gut ein Projektwochenformat, in dem die Phasen zwar verkürzt sind, dafür aber der Gesamtprozess sehr gut sichtbar wird.

Das vorliegende Material hilft bei der Gliederung der Arbeit, ersetzt aber nicht ein Gegenüber in der Theaterarbeit. Ein erfahrener Blick von außen hat sich als sehr hilfreich herausgestellt und sollte bei der Konzeption auf jeden Fall mitgedacht werden!

1. Warum ist eine freie Stückentwicklung empfehlenswert?
Das Sich-Trauen war die erste Hürde. Und wenn ich jetzt in die Zukunft gucke, ist die nächste Hürde das Weitermachen – dieses Am-Ball-Bleiben ... und auch ein Scheitern zuzulassen, das ist eine ziemlich große Herausforderung.
Birte Kasten, Theaterlehrerin

2. Prozessbegleitung durch das Partnertheater

In dem hier beschriebenen Prozess hat die Begleitung durch das Partnertheater in Form der Coachings eine wichtige Rolle gespielt. Das Spielzeitthema als Orientierung hat sehr dabei geholfen, aus den einzelnen Projekten etwas Gemeinsames zu machen. Das wurde auch bei der gemeinsamen Abschlusspräsentation sichtbar, bei der die Schüler*innen einander ein sehr fundiertes inhaltliches Feedback in Bezug auf den Freiheitsbegriff geben konnten. Tipp: Bei größeren Gruppen ist es wichtig, den Aufwand in der Terminkoordination von Coachings, Hospitationen und Fortbildungen zu beachten.
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Material

Downloadmaterial

Um die Arbeit an eigenen Projekten zu erleichtern, finden Sie im Folgenden alle Aufgaben und Texte aus dem Lehrbuch in dem Skript „Freie Stückentwicklung“ zusammengefasst, ergänzt durch eine Word-Vorlage für eine Karteikarte zur Ordnung und Überprüfung der Szenenabfolge. Außerdem haben wir für Sie einen Phasenplan entwickelt, in dem sowohl die einzelnen Projektphasen zeitlich verortet sind, als auch mögliche Schritte der Begleitung.

Weiter oben auf der Seite (unter „1. Phase“) finden Sie die fünf, extra für dieses crossmediale Lehrbuch entwickelten Tutorials zu den Themen Choreografie, Objekt, Raum, Text und Musik. In ihnen zeigt die Theaterpädagogin Gesche Lundbeck zusammen mit der 7. Klasse aus dem Projekt, welche Möglichkeiten diese Spielräume bieten und wie sie sich gemeinsam mit Schüler*innen gestalten lassen.

 

 

Wir wünschen Ihnen viel Erfolg beim Selbermachen!

Interessieren Sie sich auch für fächerübergreifende Theaterarbeit?

Hier finden Sie unser Projektbeispiel zum Thema fächerübergreifendes Stationentheater im Schulraum.

Und hier gelangen Sie zurück zur Übersicht über alle Projekte und Formate des Kunstlabors Theater und von TUSCH – Theater und Schule Hamburg.


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